Ayn Rand (1905 – 1982)
Ayn Rand – fast unbekannt in Europa und eine der einflussreichsten Autorinnen in den USA[1]. Allein diese Tatsache ist so erstaunlich, dass Rand unsere Aufmerksamkeit verdient. Rand, die in Russland aufgewachsen und mit 20 Jahren in die USA ausgewandert ist, bezeichnet ihren philosophischen Ansatz als Objektivismus. Mit ihren Beiträgen hatte sie grossen Einfluss auf den Libertarismus. Sie war mit bekannten Persönlichkeiten (darunter Alan Greenspan) befreundet.
Ich bin mir darüber im Klaren, dass die vom Ayn Rand Institute (ARI)[2] vertretenen Positionen äusserst fragwürdig sind (z.B. Waffen für den Irakkrieg statt Unterstützung für Tsunami-Opfer). Ausserdem ist die Verfilmung von Atlas Shrugged (Atlas Trilogie) grottenschlecht. Das Niveau der Schauspieler, der Regie und der Produktion sinkt (im Gleichschritt mit dem Budget für die Produktion) von Teil zu Teil. Wenn dieser Beitrag dazu animiert, sich weiter mit Rand zu beschäftigen: Vermeidet die Verfilmung von Atlas Shrugged!
Grundlage des Beitrages sind die Romane The Fountainhead[3] und Atlas Shrugged[4]. Es gibt (für humanistisch gebildete Mitteleuropäer) gute Gründe beide Bücher nach wenigen Seiten als kulturell wertlos beiseite zu legen: Seien es die holzschnittartigen Heroen, die sich auf den Gipfeln des Olymp Sätze zurufen, die sie gar nicht sagen müssten, da sie sich ohnehin schon stillschweigend verstehen. Oder das heroische Recht sich über alles Kleine mitleidlos hinwegzusetzen. Oder die Unfähigkeit zum Normalen, oder… Und dennoch:
Who is John Galt?
Diese Frage zieht sich als roter Faden durch Atlas Shrugged. Sie erscheint im Roman als Redewendung gemeinsam mit Sätzen wie: Who am I to know? Meist wird sie von Personen ausgesprochen, die aufgehört haben, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Bei diesem: Wer bin ich schon? schwingt immer zugleich die Frage nach sich selbst mit: Wer bin ich? – auch wenn das: Wer bin ich schon? gerade die Frage nach sich selbst verneint und aufgegeben hat. Bestimmen wir uns selbst oder lassen wir uns bestimmen? In den beiden Romanen Atlas Shrugged und The Fountainhead ist der selbstbestimmte, aus eigener Erkenntnis handelnde Mensch das Zentrum um das sich alles dreht, der Ursprung der Produktivität, der Motor kultureller Entwicklung – „ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges ja-sagen“ wie Nietzsche es formulierte.
Die geschichtliche Entwicklung seit der Renaissance in Europa ist geprägt von drei Emanzipationen: Der geistig-kulturellen Emanzipation durch die Aufklärung, der Emanzipation von der Natur durch die Industrialisierung und der sozialen Emanzipation von Familie und Gemeinschaft durch die staatliche Sozialgesetzgebung. Davor war das Leben bestimmt durch die Abhängigkeit von der Natur und ihren Launen, familiären Traditionen und religiösen Vorschriften. Die gewonnene Freiheit bedeutet aber zugleich, dass der Einzelne nicht mehr durch seine Umwelt bestimmt wird, sondern vor dem Problem steht sich weitgehend selbst bestimmen zu müssen. Er steht somit vor der Entscheidung, sein Leben in die Hand zu nehmen oder anderen in die Hand zu geben. Wer bin ich, der mein Leben in die Hand nehmen soll? Wo finde ich mich? Who is John Galt? Ich kann noch so viele Selfies vor noch so vielen Sehenswürdigkeiten machen – eine Antwort auf mich in Bezug auf diese Welt lässt sich nicht so einfach finden. Und es gibt ein weiteres Problem:
Darf ich das überhaupt?
Die Abhängigkeiten von Natur, Familie und Kirche bestehen, wenn auch transformiert oder abgeschwächt, natürlich weiter. Während die Abhängigkeit von der Natur im Konsumbedürfnis weiterlebt und die physische Existenz wiederspiegelt, setzen sich Familie und Kirche in der sozialen und Geistigen Existenz fort. Die Erfüllung sozialer Erwartungen war einstmals existentiell, indem sie den Zugang zur Versorgung im Alter oder bei Krankheit sicherstellte. Das eigenständige Denken wurde von der Kirche direkt sanktioniert – durch den Scheiterhaufen. Die sozialen und kirchlichen Sanktionen hat die Gesellschaft überwunden – die damit verbundenen Ängste nicht. Sie werden weiterhin gepflegt durch das Verhalten von Lehrern, Eltern, Vorgesetzten mit allen ihren Drohungen von Klassen wiederholen, zum Schuldirektor gehen,… Wenn wir vor der Frage stehen wer wir sind und was wir hier sollen, schwingen diese Ängste weiterhin mit. Darf ich überhaupt der sein, der ich sein könnte, wenn ich mich trauen würde das in Angriff zu nehmen, was die Evolution von mir verlangt? Die Frage ist unausweichlich – und wir schrecken vor ihr zurück. Ayn Rand wird nicht müde zu sagen: Du darfst – du musst! Es ist aber deine Entscheidung. Und das ist das beglückende an der Lektüre, dass ich ermutigt und aufgefordert werde das zu sein was ich sein will. Dass ich ein Recht dazu habe – und weder Kirche noch Familie noch sonst wen fragen muss ob ich darf.
Ethik und Erkenntnis
Konsequenterweise wird der Altruismus bei Rand strikt abgelehnt. In The Fountainhead wird die altruistische Verwirrung beschrieben. Altruismus bekommt die Bedeutung: Vom anderen ausgehen statt von sich selbst. Dieses Verständnis wird konsequent – nicht nur auf Bedürfnisebene verfolgt. Zum Beispiel hält man das für richtig, was man glaubt das die anderen von einem erwarten für richtig zu halten (ist den meisten ja nicht unbekannt…). Es wird vom Bedürfnis (oder auch von der Meinung) des anderen ausgegangen, der aber auch nicht weiss was sein Bedürfnis (seine Meinung) ist, da er erst die anderen fragen muss,… Diesen Relativismus lehnt Rand ebenso ab, wie den Altruismus und setzt an seine Stelle den Objektivismus, der nichts anderes besagt, als dass es in jedem Fall eine objektive Wahrheit gibt, die dem Menschen zugänglich ist – wenn er sein Leben und seine Gedanken in die Hand nimmt. Daraus ergibt sich für Rand epistemologisch der Objektivismus (mit seinem Gegenbild dem Relativismus) und ethisch der Egoismus (mit seinem Gegenbild dem Altruismus).
In The Fountainhead entsteht durch den altruistischen Relativismus eine allgemeine Orientierungslosigkeit, die von einem Journalisten mit dem Ziel gefördert wird, Macht über die orientierungslosen Massen zu bekommen. In der Auseinandersetzung zwischen Egoismus und Altruismus spiegelt sich die Diskussion von Kapitalismus vs. Kommunismus. Ohne mit allem gleich einverstanden sein zu müssen, ist es sehr spannend diese Frage einmal radikal von einer Seite beleuchtet zu sehen.
Let’s make money!
Ganz im Sinne der egoistischen Freiheit wiederholen die Protagonisten in Atlas Shrugged: „I want to produce an I want to make money.“ Während wir den ersten Halbsatz noch gut mitgehen können, kommt im zweiten Teilsatz schnell der Verdacht auf, der Protagonist würde es trotz bereits eingetretenem Reichtum nicht zustande bringen die Maslow‘sche Bedürfnispyramide emporzuklimmen. Umso spannender wie Geld und „to make money“ im Roman verstanden wird – immerhin wird Geld im Verlauf der Geschichte zu einem heiligen Symbol…
„To make money“ steht immer im Kontext von Wertschöpfung und Produktion. Geld wird zum Symbol für das, was Arbeit und Fähigkeiten so hervorgebracht haben, dass andere es nachfragen und bezahlen. Der Reichtum wird zugleich Zeichen für das in der Vergangenheit hervorgebrachte. Die Protagonisten stehen dazu und geniessen den Reichtum – ohne schlechtes Gewissen. Dieses Verständnis wird kontrastiert durch die Beschreibung der „looter“ (Plünderer), die ebenfalls Geld ansammeln – ohne aber produktiv zu sein. Es ist dabei einerlei in welchem Bereich (Markt, Börse, Staat) das Geldansammeln vor sich geht. Die looter werden als jene beschrieben, die durch ihr Verhalten die Welt zerstören.
Kollateralschaden der Ichgeburt…
Seit Jahrzenten kreisen ganze Wissenschaften um die Frage: Mehr Markt oder mehr Staat und das Pendel schlägt geduldig hin und her. Während im Kapitalismus Initiative ohne Gemeinschaft vorherrscht, findet man im Sozialismus Gemeinschaft ohne Initiative. Die alles entscheidende Frage ist also: Wie ist Initiative in der Gemeinschaft möglich?
Ayn Rand schildert das im Verlauf von Atlas Shrugged in etwa so: Ein Mensch, der seinen eigenen Wert und seine Fähigkeiten kennt, hat auch die Möglichkeit, Werte und Fähigkeiten der anderen anzuerkennen, ohne dass sein Selbstwert dadurch geschwächt wird. Wozu sollte er andere schädigen, ist er doch auf ihre Leistungen angewiesen? Umgekehrt ist es ihm wertvoll seine Leistungen für jene zu erbringen, deren Wert er anerkennt. Er produziert also so lange, als er den Grund für seine Produktion in den anderen Menschen finden kann. Umgekehrt bei Entlohnung und Bezahlung: Rands Heroen bezahlen ihre Mitarbeiter (und manchmal auch Lieferanten) durchwegs besser als die Konkurrenz, da sie die besten Mitarbeiter (und Lieferanten) haben wollen und den Wert ihrer Leistung entsprechend entlohnen.
Tabu ist eine Geldleistung oder Hilfestellung die allein aufgrund der Bedürfnisse des Empfängers gewährt werden soll (wahrscheinlich daher die Empfehlung des Ayn Rand Institutes keine Hilfsgelder für Tsunami-Opfer bereitzustellen). Wer sich nicht anstrengt aus einer schlechten Situation herauszukommen, soll auch keine Unterstützung haben. Die Selbstaufgabe – sowie alle Formen von unproduktivem Verhalten – dürfen nicht belohnt werden. Da die meisten Heroen bei Ayn Rand zwischen 30 und 40, ledig und körperlich das vitalste was Mutter Natur zustande gebracht hat sind, wird weder die Frage der Krankheit, der Behinderung, des Alters und der Kinder vertieft thematisiert. Es bleibt im Dunkeln wie mit dem nicht arbeitsfähigen Teil der Menschen verfahren werden soll. Den Verdacht, dass einige dieser Gruppen mangels "Wert" für andere sich selbst überlassen werden - mit allen daraus folgenden Konsequenzen - wird man nicht ganz los... Die soziale Realität der gefühlten Verantwortungslosigkeit, auch in einem Wohlfahrtsstaat, würde zur sichtbaren existenziellen Realität.
Der Umgang mit der sozialen Frage ist bei Rand also eine Konsequenz der individuellen Frage. Solange aber nicht alle Menschen zu Übermenschen geworden sind – bzw. solange die „letzten Menschen“ (um mit Nietzsche zu sprechen) noch die Mehrheit bilden, wird es Leid und Elend geben - für das sich keiner interessiert. Aus eben dieser Problematik und den Umwälzungen im Zusammenhang mit der Industrialisierung, hat sich am Ende des 19. Jahrhunderts die Sozialgesetzgebung entwickelt...
Das Opfer wird von Rand durchgehend ausgeschlossen. Wenn es keinen Gegenwert gibt, gibt es auch keine Leistung. Alles aber kann einen Gegenwert darstellen – der Gegenwert muss nicht wirtschaftlich sein. Es wird als Opfer verworfen, wenn anonym an irgendeine Wohlfahrtseinrichtung gespendet wird, nicht aber, wenn es um Menschen geht deren Wohlbefinden für den Spender einen Wert darstellt. Darin und in vielen weiteren Beispielen zeigt sich die Radikalität und Konsequenz mit der Rand vom produktiven wertebasierten Menschen ausgeht.
Fazit
Ich kann Atlas Shrugged – trotz der 1069 Seiten – allen wärmstens empfehlen, die in der Lage sind, ein ganzes Buch mit einem Augenzwinkern zu lesen - einem Augenzwinkern, das mir erlaubt, die Welt für eine Zeitlang radikal aus der individuell-egoistischen Perspektive zu betrachten.
Die politische Konsequenz ist ein radikaler laissez-faire Staat. Spätestens, wenn Rand Anhänger argumentieren, dass der Staat an der Finanzkriese 2008 schuld ist, kommen einem ernsthafte Fragen - selbst wenn der Staat auch eine Rolle im Krisenverlauf spielt. Alan Greenspan - als glühender Rand Anhänger - war jedenfalls überrascht, dass sein langjähriges Vorgehen plötzlich nicht mehr funktionierte...
Man muss durch die Lektüre nicht gleich Objektivist oder Kapitalist werden, aber die kompromisslose Durchführung des Individualitätsprinzips hat etwas Nietzscheanisches – und wer Nietzsche in der Phase Menschliches Allzu Menschliches bis Zarathustra schätzt, wird Ayn Rand viel abgewinnen können.
HIER noch ein interessantes Interview mit Ayn Rand aus dem Jahr 1959.
Und HIER ein interessantes Feature vom 4. November 2016 im Deutschlandfunk.
[1] Gem. einer Umfrage der Library of Congress wurde Ayn Rands Buch „Atlas Shrugged“ als das Buch bewertet, das nach der Bibel das Leben der Leser am stärksten beeinflusst hat. https://de.wikipedia.org/wiki/Ayn_Rand (1.11.2016)
[3] Ayn Rand, The Fountainhead, Signet 1993
[4] Ayn Rand, Atlas Shrugged, Signet 1992
Kommentare
Vorweg, ich habe nichts von ihr gelesen, kenne nur deinen Artikel und ein bisschen Sekundärliteratur (inkl. dem von dir empfohlenen Hörbuchfeature).
Ambivalenz
Es ist mir schwergefallen, mich in ihre Perspektive einzulassen. Vielleicht weil es (unnötigerweise?) so eine Radikalposition ist, vielleicht, weil es mir schwerfällt, solche Perspektivenwechsel auch nur temporär zuzulassen. Nicht aber, weil ich darin keinen spannenden Gedanken finde. Meine Frage ist, wieso positioniert sie sich so radikal? Da geht unnötigerweise etwas verloren. Jetzt habe ich sie auch schon in ein radikales Eck gerückt, in dem sie natürlich nur aus meiner Perspektive steht. Ich halte ihre Thesen nicht für philosophisch. Im besten Fall für wirtschaftsphilosophisch und ja, das Nietzscheanische, von dem sie ja angeblich beeinflusst ist, ist deutlich sichtbar. Ein Teil von Nietzsche, den ich bis jetzt bewusst (?) nie in den Fokus gebracht habe, sondern eher immer kritisch betrachtet habe. Auch ignoriert sie grundlegende Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaften („Bereiche des Marktversagens“). Daher fokussiere ich mich jetzt mal auf den spannenden Aspekt und eigene Erfahrungen, weil die Kritik an ihrem Konzept zu einfach und zu langweilig ist.
Der spannende Aspekt
ist das „Schaffende“, „Gestaltende“ – die Produktivität im Kontext der notwendigen inneren Einstellung sowie der fördernden und hemmenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Ich glaube, dass das Schaffende und Gestaltende im Kern des menschlichen Daseins liegt und viel mit Selbstverwirklichung zu tun hat. Romantisches Konzept? Es entspricht mir mit all den positiven und negativen Aspekten, welche damit einhergehen. Das haben wir aber ohnehin schon lange diskutiert und ich glaube, dass unsere Sichtweisen hier schon so nahe beieinander sind, dass die Diskussion ebenfalls nicht spannend wäre.
Persönliche Erfahrungen
Mein Gefühl zu mir und meinem Umfeld ist oft ein anderes.
1. Sicherheit ist wichtiger als Kreativität und/oder mutig Neues auszuprobieren. Oft stehen sicherheitsgebende Systeme (Firmen, Familien) als gegen-druckgebende Akteure (und dankbarer Entschuldigungsgrund) im Weg. Die vielen Stakeholder, die meine Motivationen verhindern/bestraffen könnten. Noch eine Ebene darüber, der Staat, ein sich selbstverstärkendes System, das immer eines will, uns Risiko („Angst“) aus dem Leben nehmen [1]. Egal zu welchem Preis [2]. Klar merke auch ich immer die Sehnsucht nach Sicherheit und das ziehende von solchen Angeboten. Keine proaktive Auseinandersetzung mit dem Thema eigenes Risiko, sondern am liebsten nicht hinschauen und eine höhere Instanz haben, die sich um alles kümmert. Das daraus resultierende Anreizsystem war ja auch einer der Kritikpunkte von Nietzsche am Sozialismus.
2. Ein – vielleicht übertriebenes – Gerechtigkeitsstreben in wirtschaftlichen Angelegenheiten zu Beginn wird von ca. 50 % der Beteiligten konsequent ausgenützt. Im Nachhinein muss ich immer nachjustieren, um selbst nicht die Motivation zu verlieren. Daher wäre vielleicht früher das „Eigene“ in den Fokus zu stellen genau die richtige Strategie, um in die volle Kraft (Produktivität) zu kommen. Und vermutlich beinhaltet das Eigene auch immer eine gehörige Portion Egoismus.
Conclusio
Kreativität (nicht im stillen Kämmerchen für sich selbst betrieben), Neues unternehmerisch zu schaffen, geht mit Risiko für die betreibende Person einher. In meiner Wahrnehmung gibt es eine gesellschaftliche Ambivalenz, die von einem Generalverdacht (z. B. Ausbeuter, Egoisten, Selbstdarstellertum, ...) bis zur gleichzeitigen Bewunderung reicht. Aus dem Gelesenen gefällt mir, dass Ann Rand die Bedeutung der risikonehmenden Personen hervorhebt.
1] Luhmann, Nikola, Sozialisation des Risikos, de Gruyter
2] Habe mir das Thema Risiko vor der Gründung von www.riskine.com genauer angesehen.
Ich kann mich deinen Überlegungen sehr gut anschliessen. Besonders deine Konklusio 2 mit dem Gerechtigkeitsstreben. Das kenn ich auch gut, dass man nicht auf Augenhöhe in einen sozialen Prozess geht und dann einfach ausgenutzt wird. Was kommt raus, wenn ich ganz (egoistisch) bei mir bleibe? Ist es dann nicht so, dass der andere weiss und sich darauf verlassen kann woran er ist? Dann spart man sich das ganze Tit for Tat...
Radikalposition: Wenn etwas "schönes" bei Ayn Rand zu finden ist, dann hat man ja fast das Gefühl, es ist wie in der Legende, die der Sufi Malik ibn Danar über Jesus erzählt. In dieser Legende (die übrigens weder in den Evangelien noch den apogryphen Schriften zu finden ist) kommt Jesus mit seinen Jüngern an einem verwesenden, stinkenden Hund vorbei. Jesus bleibt stehen und bewundert seine weissen zähne. So kann man bei Rand schon den Einzelnen in seinem Gestaltungswillen und seinen Fähigkeiten bewundern, während der Rest... Was ich an dem Ansatz von Rand spannend finde, ist die Bedeutung der Selbstbezogenheit, die durch ihre Radikalität sichtbar wird.
Sowohl als auch: Ich sehe aber noch ein Element: Es geht glaube ich nicht um ein entweder oder von Altruismus und Egoismus - auch nicht um ein weder noch, sondern vielmehr um ein sowohl als auch. Es ist gewagt, aber spannend zu denken, dass die äusserste Konsequenz des Altruismus die Gleiche sein könnte, wie die äusserste Konsequenz des Egoismus. Sie bewegen sich - trifft man die richtigen Annahmen - aufeinander zu. So weit die Hypothese. Ich versuch diese Hypothese mal zu erläutern:
Egoismus: Geht man vom Egoismus aus und versucht ihn radikal weiterzudenken könnte man ja zu folgendem kommen: Jeder Einzelne in einer Gesellschaft ist Gestalter seiner Impulse und Motive. Er produziert und arbeitet für andere solchermassen Gestaltende und sieht in ihnen einen wesentlichen Teil des Motives seiner Arbeit (das schildert Rand in Atlas Shrugged, in einem Gespräch zwischen Hank Rearden und Francisco d'Anconia als es darum geht, dass Hank Rearden ins Exil gehen soll). Er unterstützt auch jene Bedürftigen, die sich um eine Verbesserung ihrer Lage bemühen, da es für ihn wertvoll ist solche Menschen zu unterstützen (auch das bringt Ayn Rand an einzelnen ausgewählten Stellen). Der Inaktive, der sein Leben nicht in die Hand nimmt, wird einfach abgelehnt (gemäss obiger Annahme existiert der aber garnicht: "Jeder Einzelne in der Gesellschaft ist Gestalter seiner Impulse und Motive."). Man könnte sagen, dass es sich um eine Gesellschaft handelt, in der der einzelne Freie in der Freiheit des jeweils Anderen einen Wert sieht, den er aus eigenen ("egoistischen") Motiven unterstützen will. Das setzt sich auch in der Liebe fort: Ich liebe nicht aus Mitleid, oder für den/die andere, sondern weil es mir - ganz egoistisch - ein Wert ist. In der Liebe bin ich nicht selbstlos. Also: das ganze könnte funktionieren, wenn man von einer Gesellschaft radikal freier Einzelner ausgeht (wo wir selbstverständlich nicht sind). Aber warum? Weil der Einzelne, wenn er konsequent ist, seinen eigenen Wert nicht anerkennen kann, ohne den Wert der anderen anzuerkennen, die ihm in der Wirtschaft z.B. Vorleistungen... bringen.
Altruismus: Geht man vom Altruismus aus und versucht ihn radikal weiterzudenken könnte sich das ja so darstellen: Indem ich vom anderen Menschen ausgehe und gar nicht auf mich selber achte, sehe ich immer mehr, welche Fähigkeiten,... ich entwickeln muss, um ihm wirklich nützlich zu sein. Bis dorthin, dass es sinnvoll sein kann, gut auf sich selbst zu achten, schöne Urlaube zu machen,... um ausgeruht und weiter motiviert für die Aufgabe im Dienst der anderen zu sein. Das heisst, bei der radikalen Ausrichtung auf andere, wird man auf sich selbst zurückgeworfen.
Fazit: So weit mal das egoistische vs. altruistische Motiv. Meine Aussage: konsequent verfolgt führt der Altruismus auf sich selbst zurück und der Egoismus zu den anderen. Egoismus hier nicht als Gier verstanden, sondern als Ausgangspunkt des Handelns.
Jetzt hab ich die Rolle des Staates, der Sicherheit,... (die du ja erwähnst) sowie das Marktversagen ganz weggelassen - das wäre ein interessanter nächster Diskussionspunkt.
Vielleicht kommt am Ende das Gleiche raus, weil die Polaritäten „Egoismus vs. Altruismus“, so gar nicht existieren, sondern gedankliche Konstrukte sind, die den Fokus auf die falsche Fragestellung lenken? Ich habe zuerst versucht, diese Hypothese mit Beispielen zu beweisen. Es hat jedoch nicht geklappt, da sich relativ leicht Beispiele für reinen Egoismus und Altruismus finden lassen. Das Modell hat also seine Berechtigung.
Das Modell funktioniert aber nur, wenn verschiedene Bedürfnis- und Motivqualitäten verglichen werden. Mir scheint es wesentlicher, auf die Motivqualitäten zu achten, deren jeweilige Ausprägung einen entscheidenden Unterschied macht.
Was können egoistische Motive sein? Einige Beispiele:
• Materielles
• Geliebt werden / Anerkennung
• Selbstverwirklichung (auch in der Dimension Meisterschaft, etwas kreieren/schaffen ...)
Und es geht ja meist gleichzeitig um alle diese Bedürfnisse. Die Dimension „Materielles“ ist im Modellpaar „Egoismus vs. Altruismus“ darstellbar. Kann ich jedoch geliebt werden/Anerkennung bekommen, ohne die Bedürfnisse, Impulse und Motive der Anderen zu berücksichtigen? Ich glaube nicht. In dieser Bedürfnisebene scheint das Modell mit seinen Gegenpolen hinfällig. Die Selbstverwirklichung ist komplexer. Klappt diese, wenn ich nicht sehr gut auf die Motive, Bedürfnisse und Impulse der anderen Menschen achte? Nein, aber natürlich lässt sich wieder einwenden, dass in diesem Fall die Rücksichtnahme auf die Anderen aus reinem Egoismus passiert. Will ein Altruist „gutes tun“ und sich damit selbst verwirklichen oder geliebt werden?
Es geht zuerst Mal um die Prüfung der eigenen Motive, Bedürfnisse und Impulse. Erkenne dich selbst. Die Bedürfnisse und Motive kommen jedoch nicht nur aus einem tiefen, inneren, abgeschotteten Verborgenen, sondern entstehen auch im Wechselspiel mit der Welt. Und dieses Wechselspiel bleibt es dann auch in der Umsetzung. Vielleicht stört mich das an diesem Modell. Dieses scheinbare "entweder/oder" verdeckt den Blick auf dieses Wechselspiel und vielleicht ist es gar kein Wechselspiel, sondern immer eine Gleichzeitigkeit.